Die "Verlogenheit im Reisen": Zu Walter Benjamins Denkbildern "Neapel" und "Stehbierhalle"

Stefan Nienhaus
2023-01-01

Abstract

So wie nach Benjamin die Geschichtsschreibung nur fruchtbar werden kann, wenn es ihr gelingt, aus dem Vergangenen das für die Jetztzeit Bedeutende ‚herauszusprengen‘, so eröffnet die Erfahrung des Fremden dem von der Reise Zurückgekehrten im besten Fall einen neuen Blick auf das eigene herkömmlich Vertraute. Nach einem Besuch Moskaus wird dem Berliner nicht zuerst die Erinnerung an das Gesehene wichtig, sondern die im Vergleich mögliche neue Sicht auf seine Stadt, deren breite Straßen, Sauberkeit, Reichtum, aber eben auch Menschleere und Einsamkeit ihm erst jetzt bewusst werden. Doch gerade unter den Matrosen, die Benjamin auf seinen Fahrten auf Frachtschiffen kennen lernte, also bei den Menschen, die ‚auf allen Weltmeeren‘ unterwegs sind, bleibt diese Erfahrung vollkommen aus. Ihre Begegnung mit den unzähligen Hafenstädten beschränkt sich auf Bierkneipe, Bordell und Fischgerichte, meist sogar nur auf den Erwerb von lokalen Souvenirs. Aber eben in dieser Reduktion auf ein Warenverhältnis mit dem Fremden – das angesichts eines Verlusts jedweder Bindung an irgendeine ‚Heimat‘ zum eigentlich Vertrauten, zur „Wiege“ wird – spricht sich laut Benjamin das moderne Scheitern interkulturellen Transfers aus, dessen Möglichkeit jene „Verlogenheit des Reisens“ mit seinen noch so gut informierten Besichtigungen fremder Orte uns vortäuschen möchte.
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Utilizza questo identificativo per citare o creare un link a questo documento: https://hdl.handle.net/11386/4856004
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